Wie viele Krisen bietet auch die Corona-Pandemie einige Chancen. Das zeigt sich besonders in der Wirtschaft: Quasi über Nacht wurden viele Unternehmensprozesse erfolgreich digitalisiert – dieses Phänomen bezeichnet Prof. Dr. Antonio Krüger, Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, als „Crashkursdigitalisierung“[1]. Nicht zuletzt trifft das auch auf die Kommunikation mit Kollegen und Geschäftspartnern zu. Denn in der Ausnahmesituation der Pandemie hat sich schon nach kurzer Zeit das Home-Office als echte Arbeitsplatz-Alternative etabliert. Die tägliche Nutzung von digitalen Kommunikationsplattformen wie GoToMeeting, Teams, Skype oder Zoom sind Mitarbeitern und Vorgesetzten schnell in Fleisch und Blut übergegangen und vielerorts jubeln Umweltschützer und Unternehmensleitungen, Geschäftsreisen könnten stark reduziert werden – manche spekulieren sogar auf bis zu 50 Prozent weniger!
Doch hier ist Vorsicht angebracht, warnt VDR-Präsident Christoph Carnier. „Aus kurzfristigen Einsparungen kann mittel- und langfristig großer wirtschaftlicher Schaden entstehen, der die Folgen der Pandemie somit noch verschlimmern würde!“ Carnier verweist auf eine aktuelle Analyse der Harvard University, die zeigt, dass bis zu 17 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung verloren gingen, würden Dienstreisen dauerhaft ausgesetzt. Harvard-Ökonom und Studienleiter Ricardo Hausmann betrachtet dabei nicht die Produktivität, die vor Ort entsteht, wenn beispielsweise Zweigniederlassungen in anderen Ländern gegründet werden. Er fand in seiner Studie “Knowledge diffusion in the network of international business travel”[2] die These bestätigt, dass Geschäftsreisende als wichtige Know-how-Übermittler agieren. Durch sie geschieht persönlicher Know-how-Austausch, der die Produktivität von Unternehmen und Wirtschaft steigert und zu neuem Output und Arbeitsplätzen führt.
Hausmann spricht in diesem Zusammenhang von dem Austausch von indirektem Wissen. Er meint damit praktisches Know-how, also zu wissen, wie man bestimmte Aufgaben fachmännisch selbst ausführt oder wo man jemanden findet, der das entsprechende Fachwissen besitzt. Dieses Know-how findet sich weder in Lehrbüchern noch in Bedienungsanleitungen und wird vorwiegend situativ angewandt oder weitergegeben. In der persönlichen Begegnung schaffen Menschen zahlreiche Situationen, in denen sie ihr Wissen weitergeben, ohne dass es zuvor ausdrücklich abgefragt wurde. Die Situationen entwickeln sich im Laufe eines Gesprächs über Randbemerkungen, persönliche Anekdoten oder auch Fragestellungen, die zuvor vielleicht nicht relevant schienen. Es geht also um Inhalte, die auf keiner Agenda eines Webmeetings oder einer Telefonkonferenz zu finden sind und die erst im persönlichen Gespräch entstehen.
Diese Ergebnisse untermauert eine Befragung von 17.038 Geschäftsreisenden aus 24 Ländern[3], wonach sich Dienstreisen nicht nur positiv auf den Unternehmenserfolg auswirken, sondern dem Angestellten auch ermöglichen, den eigenen Horizont zu erweitern und das persönliche Potenzial auszuschöpfen. Zwei Drittel der internationalen (66 %) und mehr als die Hälfte der deutschen Business Traveller (53 %) halten den persönlichen Kontakt mit Kollegen und Kunden für unverzichtbar. Auf die Frage, was sie auf ihren Dienstreisen erreichen möchten, antwortete fast die Hälfte der Befragten (46 %), dass ihr Ziel die Steigerung des Unternehmenserfolgs sei. Auch bei 40 Prozent der Deutschen steht der Firmenerfolg über allem anderen. Aber mehr als jeder dritte Deutsche (38 %) möchte auch etwas lernen, das ihn beruflich voranbringt. Dazu passt, dass deutsche Unternehmen weltweit die meisten Mitarbeiter und somit die meisten Know-how-Vermittler in andere Länder entsenden.
Carnier findet es richtig und notwendig, Geschäftsreisen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und sie, wenn es sinnvoll ist, durch virtuelle Meetings zu ersetzen. „Reisen intelligent zu managen, heißt auch immer, die Kosten im Blick zu haben. Doch noch sind die neuen Technologien unzureichend, wenn es darum geht, implizites Know-how zu vermitteln oder vertrauensvolle Beziehungen verbunden mit Know-how aufzubauen, die elementar für Wirtschaftswachstum auf der ganzen Welt sind.“
[2] Vgl. „Knowledge diffusion in the network of international business travel”, Michele Coscia, Frank M. H. Neffke & Ricardo Hausmann. Hausmanns Studie ist Teil eines Wachstumsforschungsprojekts. Sein Team wertete dafür unzählige Daten von Kreditkarten aus. Als die Studie startete, war die Corona-Krise noch lange nicht abzusehen.